Wir Sind Alle 129 a,b,c,d – Aufruf zur Offenen Versammlung für offensive Solidarität

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Wir teilen an dieser Stelle den Aufruf zu einer Diskussion, die am 13. März im New Yorck vom Bethanien (Berlin) stattfinden soll:

„Seit einiger Zeit mehren sich Ermittlungsverfahren wegen des Tatvorwurfs der Bildung einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung, angetrieben von der Bundesanwaltschaft.

Das zur Zeit in Dresden verhandelte Verfahren gegen Lina, weitere Angeklagte und noch nicht verhandelte Beschuldigte führt uns, wie schon des Öfteren, eine Reihe von Widersprüchen, Problemen und Konfliktfeldern in der politischen Solidarität mit von Repression Betroffenen vor Augen.

Aus einer antiautoritären / anarchistischen Perspektive halten wir es für notwendig, zu einer offenen Versammlung mit dem besonderen Fokus auf den §129 Prozess im Antifa Ost-Verfahren aufzurufen. Um gemeinsam zu diskutieren und politisch zu analysieren, was Repression und die gerade auffällige Nutzung des §129 durch den Staat für uns und die Bewegung bedeutet und um gemeinsam eine auf gegenseitige Hilfe beruhende emanzipatorische revolutionäre Zukunft zu erkämpfen.

Solidarität besteht unseres Erachtens aus mehreren Faktoren: Einmal die ganz konkrete Solidarität zu den Gefangenen, so in der Organisierung von Geld, Büchern, Klamotten und emotionalem Support. Und eine offensive Art der Solidarität, die mit Erklärungen oder bewusstem Schweigen gegenüber den repressiven Institutionen, unsere nachhaltige Ablehnung gegen die existierenden Verhältnisse auszudrücken. Also: Die Verteidigung unserer Ideen auf allen Ebenen und in jedem Terrain, in dem wir uns bewegen. Es geht uns um offensive Solidarität, die tatsächlich zeigt, wofür wir kämpfen. Es sollte primär um die Fragen unseres Kampfes gehen, warum intervenieren wir an diesen Punkten und worin besteht die Notwendigkeit dieser Kämpfe? Der Staat greift diese an, weil sie stören. Was gibt es Schöneres, als diese zu stärken und zu verbreitern?

Eine horizontale, offene und gemeinsame Organisierung und Austausch bildet die Grundlage von Solidarität. Lasst uns also gemeinsam Wege finden, um gegen die Repressionsschläge des Staates zu kämpfen.

Die Strafrechtsnorm 129 hat ihre Wurzeln schon im 19. Jahrhundert. Von 1871 bis 1945 wurden damit – staatsfeindliche Verbindungen – vor allem Vereinigungen der Arbeiter*innenbewegung oder Kommunist*innen kriminalisiert. In der Bundesrepublik richtete sich der Paragraf 129 nominell gegen „kriminelle Vereinigungen“ , praktisch aber weiterhin gegen politische Linke. In den 50er Jahren wurden Zehntausende Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der KPD eingeleitet. In den 80er Jahren trafen Ermittlungsverfahren wegen des Paragrafen 129 Hunderte Hausbesetzer*innen. Eine Verschärfung fand 1976 im Zuge des ausufernden staatlichen Vorgehens gegen die Rote Armee Fraktion statt. Die Einführung des Paragrafen 129a, der »Bildung einer terroristischen Vereinigung« wurde mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft. Ermittlungsverfahren werden automatisch von der Bundesanwaltschaft übernommen, die damit zur Verfolgungszentrale gegen linksradikale Gruppen geworden ist, so auch bei dem Antifa Ost Verfahren. Mit Ausnahme des Paragrafen 129 b, eine „kriminelle bzw. terroristische Vereinigung im Ausland“, der oft zur Einknastung von Angehörigen kurdischer und türkischer Strukturen verwendet wird, werden Verfahren nach § 129 und § 129 a oft eingestellt und dienen oft zur Einschüchterung und Ausforschung von Strukturen.

Terrordateien, Paragrafendschungel und Überwachungstechniken dienen dazu, Prozesse von Selbstorganisierung und kollektiver Verweigerung – und damit emanzipatorischer Entwicklung überhaupt – zu verhindern und anzugreifen.

Ein weiterer Aspekt zeigt sich in diesem § 129 Prozess: mit seiner Umsetzung steht nicht mehr die „kriminelle Handlung“ im Mittelpunkt der Strafverfolgung. Der Staat interessiert sich nicht so sehr für die Tatsache, dass eine Person eine andere Person verprügelt, dass ein Auto verbrannt wird, ein Stein geworfen wird, ein Fenster zerbrochen wird, eine Bank in Brand gesteckt wird usw.. Die Aktion und ihre Folgen treten in den Hintergrund. Worauf es wirklich ankommt und was solche Vorwürfe bewegt, nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern und darüber hinaus, ist die politische Idee hinter der Aktion. Die Idee hinter jeder Handlung ist die wirkliche Gefahr für den Staat und muss als solche bestraft, verhaftet, in jeder Hinsicht gestoppt werden, bevor sie sich ausbreitet, reproduzierbar wird und in die Köpfe und Hände anderer Menschen gelangt. Kriminalisierung durch §129 zeigt sich als perfektes Werkzeug, das eingerichtet wurde, um jede politische Idee zu zerschlagen, die gegen die Machtansprüche des Kapitals, des Patriarchen oder der Kolonialist*in aufbegehrt.

In den heutigen Bewegungen gibt es oft starke Impulse zu reformistischen Teilbereichskämpfen, in denen sich von der Fähigkeit entfernt wird, sich gegenseitig in verschiedenen Befreiungskämpfen zu unterstützen und das Ineinandergreifen von verschiedensten Unterdrückungsformen zu erkennen und bekämpfen. Gegen diese Isolierung zwischen Kämpfen verbinden wir unsere Solidarität gegen den §129 und unseren Kampf gegen Faschismus mit einem Kampf gegen jede Herrschaft!

Jede*r Einzelne, welche*r allein oder gemeinsam mit anderen offen gegen den Staat und seine verschiedenen Formen von Herrschaft und Unterdrückung kämpft, sollte bedenken, dass diese Art von Anklage an deren Tür klopfen könnte. Aber das sollte uns nicht erschrecken! Wir sollten uns nicht isolieren und distanzieren, sondern die Verbindungen in unseren Kämpfen, in unseren Leben und die Solidarität und die Beziehungen zueinander stärken, um den Angriffen des Staates feindlich und offensiv gegenüberzustehen.

Seit November 2020 befindet sich die Gefährtin Lina in Untersuchungshaft und wird nach § 129 zusammen mit 9 anderen beschuldigt, eine kriminelle Organisation gebildet zu haben, um Neonazis den Gar auszumachen. Der Prozess, der seit dem 8. September läuft, findet in Dresden in einem ehemals für die Nazigruppe Freital gebauten Hochsicherheits-Gerichtssaal statt. Im Moment stehen Lina und 3 der anderen Angeklagten vor Gericht. Es zeichnet sich ab, dass es vielleicht in naher Zukunft zu Zeug*innenvorladungen und weiteren Anklagen kommen kann. Viele haben vielleicht auch mitbekommen, dass der Prozess und die Solidarität vom Schatten bestialischer Auswirkungen des Patriarchats überlagert sind. Nun einmal mehr wollen wir uns davon nicht bleiern den herrschenden Verhältnissen hingeben und gerade jetzt zur offensiven Solidarität aufrufen in unseren Kämpfen gegen die herrschenden Verhältnisse.

Die Darstellung von Lina durch die Medien entweder als unschuldiges Mädchen, das von ihrem Freund korrumpiert wurde, oder als gewalttätige Anführerin einer Bande von Schläger*innen speist sich in ein sexistisches und patriarchales Narrativ der herrschenden Verhältnisse, in dem Flinta+, die nicht in eine bestimmte Rolle passen, als von der Norm abweichend beurteilt werden und das kotzt uns an. Sie wird nun seit über einem Jahr ohne jegliche Verurteilung gefangen hinter staatlichen Mauern gehalten.

Lina muss raus! Durch die Mauer – bis sie bricht!

NIEMAND ALLEIN IN DEN HÄNDEN DES STAATES! Freiheit für Lina ! Freiheit für Alle!“