Offener Brief an das SAO

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Hiermit veröffentlichen wir mit viel Wertschätzung einen an uns adressierten Brief:

Dieser Prozess läuft jetzt seit einem Jahr und Lina sitzt seit November 2020 in U-Haft. Die BAW versucht eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren, obwohl es weder Bekenner*innenschreiben noch sonstige Veröffentlichungen einer angeblichen Struktur gibt. Zu Recht wird dieses Verfahren von vielen als schwerwiegendster Angriff der Repression seit langer Zeit auf uns eingestuft. Der Prozess läuft vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichtes und die Solistruktur begleitet jeden Prozesstag und veröffentlicht umfangreiche Mitschriften dazu – Danke dafür! . Man muss leider davon ausgehen, dass am Ende dieses Prozesses nicht unbedingt ein Freispruch für alle stehen wird, sondern das Gegenteil. Diesen Eindruck konnte mensch bereits seit langem haben. Seit Juni 2022 hat sich die politische Lage noch einmal verschärft, weil der Mitbeschuldigte im abgetrennten Verfahren, JD, die Seiten gewechselt hat und sich Bullen, BAW, VS und dem Gericht als Kronzeuge zur Verfügung stellt. . Seine Aussagen vor Gericht werden ebenfalls von der Solistruktur publiziert.

Wir kennen weder JD, noch die Angeklagten. Wir haben aber seit langer Zeit als interessierte GenossInnen viele Prozesse gegen Leute von uns in verschiedenen Funktionen „begleitet“. Uns sind dabei unterschiedliche Strategien der Angeklagten begegnet, offensive, defensive….Wir haben dazu auf keinen Fall eine dogmatische Einstellung, außer dass wir reuevolle Geständnisse immer peinlich, deplaziert und politisch würdelos finden. Jeder Prozess hat seinen speziellen Hintergrund, vor dem die Angeklagten – hoffentlich immer in Diskussion mit ihrem politischen Umfeld – ihre jeweilige Strategie finden und umsetzen. Ratschläge von außerhalb an Angeklagte sind meistens problematisch. Denn diejenigen, die sie geben, sitzen oft lediglich vor ihrem Laptop-Bildschirm und die angeklagten GenossInnen sind in vorderster Reihe – wie hier – mit der BAW und einem Staatsschutzsenat konfrontiert. Deshalb haben wir auch an dieser Stelle von den Angeklagten weder etwas zu fordern, noch sie zu einem bestimmten Verhalten aufzurufen, aber wir möchten unsere Überlegungen dazu äußern. . Dies wollen wir in jedem Fall auf solidarische Art und Weise tun und wir hoffen, dass es uns gelingt und dass dies auch bei an AdressatInnen so empfunden wird.

Wir glauben, dass der Prozess durch die Aussagen von JD eine verschärfte politische Dimension bekommen hat. Dies nicht durch seine Aussagen, wer angeblich wann mit wem was auch immer getan, gesagt oder gelassen haben soll. Der Staatsschutzsenat hatte seine Beweisaufnahme quasi abgeschlossen und wäre zur Verurteilung geschritten – die Aussagen von JD hat er nicht unbedingt gebraucht. Insoweit mögen juristisch die Belastungen von JD gegen die Angeklagten den bisherigen Stand der Beweisaufnahme bestätigen, aber im Endergebnis würde wohl auch ohne seine Aussagen der gleiche Scheiß rauskommen.

Uns geht es um den politischen und auch medial wahrgenommenen Charakter des Prozesses und die „politischen“ Aussagen von JD, seine Angaben zu seiner angeblichen Politisierung, seiner angeblichen Radikalisierung usw. Wie mensch den Prozessmitschriften entnehmen kann, kommt von JD zu allen Fragen des Gerichts hinsichtlich des Werdegangs eines auch ehemals militanten Antifaschisten ein ziemlich hohles Gestammel. Warum mensch dem Staat und seinen Organen bei der Bekämpfung von Nazis nicht vertrauen kann, warum es nötig ist, sich zu organisieren, warum Nazis eine solche Bedrohung darstellen usw.usf. sind Fragen, zu denen Antifaschist*innen umfangreich Stellung nehmen könnten. Hierzu kommt von JD allenfalls dummes Zeug.(https://www.soli-antifa-ost.org/bericht-vom-60-prozesstag-mittwoch-28-07-2022/ etc.) ) Hierbei ist es egal, ob er selbst so dumm und unpolitisch ist bzw. war, wie er tut, ob ihm seine Vergangenheit mittlerweile peinlich ist oder ob er im Auftrag des VS nur unpolitischen Kram von sich gibt. Uns geht es um die Wirkung, die das Gestammel von JD hervorrufen kann. Wir haben die Befürchtung, dass politisch die Delegitimation von (militantem) Antifaschismus von diesem Prozess übrig bleiben könnte . Alle, außer die wenigen, die es besser wissen, bekommen lediglich die Aussagen von JD mit, denen bisher im Prozess nichts angemessenes entgegengesetzt wird. Und es ist ein Unterschied, ob wer auch immer auf Seiten im Internet, etwas dagegensetzt oder ob es eine direkte politische Konfrontation im Gerichtssaal zu den politischen Hintergründen gibt.

Politische Prozessführung gibt es in diesem Land – zumindest seinen westlichen Bestandteilen – spätestens seit der Revolte 1968. Mal sind sie spektakulärer, mal nicht, mal werden sie von interessierter Öffentlichkeit begleitet und häufig nicht. Ein paar Verfahren halten wir für vergleichbar mit dem jetzigen Verfahren in Dresden.

Zum Beispiel den sog. Mackenrode-Prozess in Göttingen 1998. Im Oktober 1991 hatten mehrere Dutzend wenn nicht mehr als einhundert Antifas das FAP-Schulungszentrum in Mackenrode am hellichten Tag militant angegriffen. Unter anderem wurde ein Nazi durch einen Schuss mit einer Zwille ziemlich schwer im Gesicht verletzt. Die politische Staatsanwaltschaft versuchte eine Anklage wegen versuchten Totschlag zu produzieren und zerrte fünf GenossInnen vor das Landgericht Göttingen. Niemand von den Fünfen saß glücklicherweise auch nur einen Tag in U-Haft. Im Prozess sagten eine Reihe von FAP-Kadern als Zeugen aus und bemühten sich redlich, mindestens einen Teil der Angeklagten zu belasten. Nach jeder Vernehmung eines Nazizeugen gaben die Angeklagten abwechselnd eine Erklärung zu den Nazis ab. Wie deren politischer Werdegang war, wo sie sich an Angriffen auf Linke, Migrant*innen etc. beteiligt hatten, in welchen Nazi-Strukturen sie organisiert waren, für welche barbarische Ideologie und welchen praktischen Terror die jeweilige Struktur stand, etc. Über Bande sollte damit vermittelt werden, dass ein Sich-Wehren und auch ein Angriff auf solch gewalttätige Neonazis seine Berechtigung hat. Die GenossInnen kamen durch ihre offensiven Erklärungen ins selbstbestimmte Handeln und konnten eine Stärke in der grundsätzlich unangenehmen Prozess-Situation gewinnen. In diesem Beispiel zeigte sich, dass auch der Gerichtsaal ein politisches Terrain für linke Angeklagte sein konnte.

Ein anderes – nicht so tolles – Beispiel stellt der RZ-Prozess in Berlin Anfang der Nullerjahre dar. Auch dort gab es einen Kronzeugen – Tarek Mousli – , der zur BAW übergelaufen war. Die Verfahrenslage ähnelt dem aktuellen Prozess in Dresden. Beim RZ-Verfahren war allerdings von vornherein klar, dass es einen Kronzeugen gab. An diesem hing alles, andere Beweise gegen die Angeklagten existierten quasi nicht. Die damaligen Angeklagten setzten den Aussagen von Mousli nichts eigenes entgegen, sondern verließen sich völlig auf eine juristische Verteidigung. Viele verstanden damals die Aussagen von Mousli nicht nur als juristisches Mittel, mit deren Hilfe die BAW eine Verurteilung der Angeklagten durchsetzen konnte, sondern auch als einen politischen Angriff ^1 <#sdfootnote1sym>. Auch die jetzigen Aussagen von JD verstehen wir als einen politischen Angriff, und deshalb diskutieren wir über Möglichkeiten des Reagierens.

In einem weiteren RZ-Prozess in Frankfurt zur gleichen Zeit versuchte der Kronzeuge Hans-Joachim Klein ehemalige RZ-Miglieder schwer zu belasten. Der Versuch scheiterte sowohl juristisch wie politisch. Dies lag einzig und allein daran, dass ein anderes früheres RZ-Mitglied (Gerhard Schnepel) auf Antrag der Verteidigung bereit war, über Klein und RZ-Strukturen der 1970er Jahre geschickt auszusagen, ohne dabei Schaden für Beschuldigte oder andere Strukturen anzurichten. So war es möglich, Kleins Denunziationen zu widerlegen. Die BAW kam mit ihrem Versuch, linksradikalen Widerstand zu diskreditieren, nicht durch.

Der politische Angriff ging damals und auch heute weit über die Angeklagten hinaus. Er gilt einer ganzen politischen Bewegung, damals den ProtagonistInnen sowohl des bewaffneten Kampfes als auch der militanten Aktionen und ihren Unterstützer*innen. Heute wird auf die gesamte antifaschistische Bewegung gezielt und speziell auf den militanten Flügel derselben. Die Soligruppe versucht sehr engagiert, diese Angriffe – die durch die Kriminalisierung lange vor den Aussagen von JD begannen – zurückzuweisen und vertritt explizit politische antifaschistische Inhalte. Dies geschieht in Pressemitteilungen, auf den regelmäßigen Kundgebungen, aber leider im wesentlichen im Netz. Bundesweite Veranstaltungen dazu in vielen Städten mit möglichst viel Publikum? Leider Fehlanzeige. Die interessierte Öffentlichkeit ist leider nur die übliche – eine kleine radikale Minderheit. Dabei wird in der bürgerlichen Presse relativ häufig über den Prozess berichtet – aber Journalist*innen berichten nun mal in erster Linie darüber, was im Gerichtssaal geschieht.

Wenn nicht versucht werden sollte, den Aussagen von JD – und zwar im Prozess – etwas entgegenzusetzen, dann sehen wir die Gefahr, dass die angeklagten GenossInnen nicht nur verurteilt werden, sondern die BAW mit ihrem Versuch durchkommt, antifaschistischen Widerstand zu diskreditieren und zu denunzieren. Dann würde im schlimmsten Fall in der Öffentlichkeit übrig bleiben, dass politisch nicht so bewusste Menschen ein paar Nazis zusammengeschlagen haben. Warum und wieso? Weiß mensch halt leider nicht.

Was könnte denn JD und seinen Aussagen entgegengesetzt werden? Eventuell politische Erklärungen der Angeklagten z.B. dazu, warum antifaschistische Selbstorganisierung in diesem Land unabdingbar ist und warum mensch sich nicht auf staatliche Behörden im Kampf gegen rechts verlassen kann. Dazu könnte einiges gesagt werden, ohne dass es zu offensiv wird. Vielleicht würde es den Angeklagten auch danach und dadurch etwas besser gehen, wenn sie zumindest versuchen dem politischen Angriff etwas entgegenzusetzen. Eine andere Perspektive auf Antifaschismus in die Berichterstattung zu bekommen, würde nicht leicht und kein Automatismus sein, aber es bestünde eben eine Chance darauf, wenn Angeklagte politische Erklärungen abgeben würden. Wohl gemerkt: wir haben von den Angeklagten nichts zu fordern. Sie sitzen dort zwar lediglich zu viert vor dem Staatsschutzsenat, aber gemeint sind wir alle und der politische Angriff gilt auch uns allen. Wir verstehen auch, wenn in einer solchen Situation nicht der militanten Widerstand legitimiert und offensiv davon gesprochen wird, dass es gut und richtig ist, Nazis militant anzugreifen. Aber auch unterhalb dieser Schwelle könnte – und wir sind der Meinung /sollte/ – versucht werden, dem Kalkül der BAW zu begegnen. Denn wir glauben nach wie vor an die Möglichkeit der Vermittlung von linker und linksradikaler Politik. Gerade auch im Bereich Antifaschismus und auch im Gericht bestehen Spielräume, Legitimierung oder Anerkennung dieser „Institution“ hin oder her….

Wir denken, es wäre bitter, wenn von diesem Verfahren vor allem im Gedächtnis bliebe: „Vergewaltiger“ „Kronzeuge“ „Verurteilung“. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, dass wir alle viel mehr darüber nachdenken, reden und danach handeln, was die Notwendigkeit von (militantem) Antifaschismus heute bedeutet.

Solidarische Grüße