Einzeltäter rechts, »kriminelle Vereinigungen« links

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An dieser Stelle dokumentieren wir einen Artikel von Carina Book, der am 21.09.2021 in der Zeitung „analyse und kritik“ erschien:

„Im Prozess gegen Lina E. kommt der Paragraf 129 zur Anwendung – die Behörden lieben diesen Trick

Man muss sich schon sehr auf das Atmen konzentrieren, wenn man das Oberlandesgericht (OLG) in Dresden betritt, vor dem das §129-Verfahren (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) gegen Lina E. und drei Mitangeklagte verhandelt wird. Bis zwischen die Zehen wird in der Schleuse zum Hochsicherheitssaal kontrolliert, ob sich nicht doch irgendwo ein gefährlicher Gegenstand oder gar eine Wanze verbergen könnte. Alles an dieser Prozedur erweckt den Eindruck, als würde es sich um einen Terrorprozess handeln. Tatsächlich aber will das OLG Dresden eine Reihe Angriffe auf Neonazis verhandeln. Dies allerdings nicht als Einzelstraftaten, sondern zusammengezogen in einem §129-Verfahren. Durch das Heranziehen des §129 sind Überwachungen der Telekommunikation und auch die Innenraumüberwachung von Autos oder Privatwohnungen möglich, die für die einzelnen Tatbestände jeweils nicht zulässig gewesen wären. Ob, und wenn ja, welche dieser Beweise zulässig sein werden, wird noch strittig sein.

Einmal ins Innere vorgedrungen und die Hände in den absolut leeren Hosentaschen vergraben, blickt man durch die hohen Zäune des kleinen Hofs, der an das Gericht grenzt: Hier, in the middle of nowhere, weit entfernt von der Stadtöffentlichkeit, schließen − optisch kaum voneinander zu unterscheiden − sowohl die Justizvollzugsanstalt als auch eine Geflüchtetenunterkunft an das OLG an. Eine beklemmende Atmosphäre liegt über dem Areal. Vom Medienrummel des ersten Prozesstages ist am Tag danach wenig übriggeblieben. Die Geschichten über die »Rote Rächerin« (Bild-Zeitung) und eine »brutale Hammer-Bande« (Tag24), die den »Tod der Opfer billigend in Kauf« (Spiegel) genommen habe, sind längst geschrieben.

Auf dem Hof tummeln sich nun nur noch zahlreiche Unterstützer*innen von Lina. Sie hatten schon drei Stunden vor Prozessbeginn vor dem Gericht ausgeharrt, um sicher einen Platz im Zuschauer*innenraum zu bekommen. Und vor allem, um früher da zu sein, als die Neonazis, die so in den Zuschauer*innenraum gelangen könnten. Unter den Unterstützer*innen ist Marta Zionek. Sie ist  Pressesprecherin der Soligruppe Antifa Ost. Der Sicherheits-Zinnober überrascht sie nicht: »Für die Bundesanwaltschaft sind die Bilder, die hier geschaffen werden, elementar. Das Verfahren soll bewusst im Lichte des Terrorismus erscheinen, um es überhaupt in die Nähe der Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft zu rücken.«

Wer nichts findet, muss weiter suchen

Dass der Generalbundesanwalt, zumindest hinsichtlich amtlicher Propaganda-Bilder, keine Gefangenen macht, hatte er schon am 6. November 2020 bewiesen, als er Lina E. mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe fliegen ließ. Wie durch Zufall waren dort Fotografen zugegen, die Lina E. so ablichteten wie einst den Lübke-Mörder oder auch den Attentäter von Halle. Doch im Gegensatz zu Lina E. und ihren Mitangeklagten wurden die beiden Nazis als Einzeltäter verhandelt. Marta Zionek hat eine Erklärung dafür: »Der Lübke-Mörder und der Halle-Attentäter sind ja nur zwei von sehr vielen Beispielen. Erinnern wir uns an den Überfall auf Connewitz, als 250 Neonazis organisiert den Stadtteil angegriffen haben: Da hat es auch kein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gegeben. Der Paragraf 129, speziell seit der Novellierung 2017, ist ein Mittel, um mit sehr niedrigen Hürden sehr weitreichende Ermittlungen durchzuführen. In diesen werden dann irgendwelche Indizien gesammelt und zurechtgebastelt, um ein Verfahren eröffnen zu können. Immer wieder stellen wir fest, dass dies vor allem Linke betrifft.«

Das hat im Freistaat Sachsen tatsächlich Tradition. Bereits in den vergangenen Jahren hatte die sächsische Justiz auf der Suche nach einer kriminellen Vereinigung in der linken Szene und/oder im Umfeld des Fußballvereins Chemie Leipzig keinen Stein auf dem anderen gelassen. Drei großangelegte Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet. Zwischen 2011 und 2014 wurde nach den Protesten gegen den Naziaufmarsch in Dresden etwa eine halbe Million Verkehrsdaten erhoben und 30 Hausdurchsuchungen durchgeführt. Ende 2016 und Mitte Juni 2018 mussten zwei §129-Ermittlungsverfahren ergebnislos eingestellt werden.

Eingestellt – also alles gut, könnte man denken. Doch die Datenmengen, die über zahlreiche Personen in diesen Ermittlungsverfahren erhoben worden sind, sind schier unvorstellbar. Im Zeitraum von August 2015 bis Mai 2016 wurden beispielsweise 921 Telefone abgehört und die Inhaber*innen von 484 Anschlüssen ermittelt. Insgesamt wurden 53.210 Telekommunikationsereignisse gespeichert. Dabei gab es zwar eine Menge Beifang, doch eine kriminelle Vereinigung fand man auch diesmal nicht. Im Juni 2018 musste erneut ein Verfahren ohne Ergebnis eingestellt werden, und so flatterten 355 Briefe in Leipziger Briefkästen, um Betroffene darüber zu informieren, dass ihre Überwachung nun eingestellt werde.

Die Nazis und die Ermittelnden

Drei Misserfolge wollte man nicht auf sich sitzen lassen und so wurde 2019, mitten im Bürgermeister*innen-Wahlkampf in Leipzig, die Soko Linx gegründet. Ihre abenteuerlichen Ermittlungen könnten im Verlauf dieses Prozesses noch Aufsehen erregen. So stellte sich bereits heraus, dass Annemarie K., die Lebensgefährtin des Neonazis Enrico Böhm, der im hiesigen Verfahren als Nebenkläger auftritt, eigens ein 14-seitiges Dossier über Linke angelegt hatte. In diesem Dossier beschuldigt sie Linke als Tatverdächtige am Angriff auf Böhm und übergab diese Unterlagen an das LKA Sachsen. »Wir müssen davon ausgehen, dass das LKA in mindestens einem Fall damit arbeitet und sich auch im vorliegenden Fall auf ein Dossier bezieht, das aus dem Umfeld von Enrico Böhm an das LKA gegeben wurde. Das heißt, die Soko Linx hat Informationen von Neonazis zur Ermittlungsgrundlage genommen, die sie jetzt über die Bundesanwaltschaft gegen Antifaschist*innen zur Anklage bringt«, sagt Zionek.

Die Soko Linx hat Informationen von Neonazis zur Ermittlungsgrundlage genommen, die sie jetzt über die Bundesanwaltschaft gegen Antifaschist*innen zur Anklage bringt.

Es ist nicht das erste Mal, dass sächsische Behörden durch Verstrickungen mit Neonazis von sich reden machen. Im März 2021 musste das Mobile Einsatzkommando (MEK) des sächsischen LKA aufgelöst werden. Zuvor waren mehrere tausend Schuss Polizei-Munition entwendet worden. Sie dienten als Bezahlung für die Betreiberfirma Baltic Shooters des Schießplatzes in Güstrow, wo die Einheit nicht-genehmigte Schießübungen durchführte. Pikant ist, dass der Betreiber Frank T. mutmaßlicher Anhänger des extrem rechten Netzwerks Nordkreuz sein soll. Am 10. September legte nun eine unabhängige Kommission ihren Untersuchungsbericht vor und kommt darin zu dem Ergebnis: Es hat alles nichts mit nichts zu tun − kein rechtes Netzwerk beim MEK zu finden. Ob auch Beamt*innen des nun aufgelösten MEK an Observationen von Lina E. und ihren Mitangeklagten beteiligt waren, wird vielleicht der Prozess zeigen.

Auch im Zusammenhang mit Festnahmen von Antifas 2019 in Eisenach ergaben sich Hinweise, dass es eine enge Verbindung von Nazis und Polizei geben könnte: »Nur ein paar Stunden nach den Festnahmen hat der lokale Neonazikader Patrick Wieschke alle Vor- und Nachnamen der Festgenommen veröffentlicht. Diese Informationen muss er aus Polizei-Kreisen erhalten haben. In dieser Veröffentlichung spricht Wieschke von Lina E. als Kommandoführerin. Es ist das erste Mal, dass diese Bezeichnung in die Welt gesetzt wurde. Es ist wichtig sich klarzumachen, dass letztlich die mediale Berichterstattung und auch das Wording der Bundesanwaltschaft auf einen NPD-Kader aus Eisenach zurückzuführen und von dort übernommen worden sind.«

Ein ähnlich gelagerter Fall dreht sich um eine Hausdurchsuchung in Connewitz im Frühling dieses Jahres: Die Freundin eines Durchsuchten hatte ihre Telefonnummer für Rückfragen an die Beamt*innen der Soko Linx gegeben. Am nächsten Tag erhielt sie einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Der Anrufer sagte ihr, sie solle doch mal auf die Seite des rechten Compact-Magazins schauen. Dort fand sich eine detaillierte Recherche über den Durchsuchten. »Einen weiteren Tag später erhielt der Durchsuchte eine E-Mail von einem unbekannten Absender, die Ermittlungsakten aus einem vergangenen Verfahren und eine detaillierte Kopie seines Handys enthielt. Diese Informationen müssen aus Kreisen des sächsischen LKA, genauer gesagt der Soko Linx, an das Compact-Magazin durchgestochen worden sein«, so Zionek.

Dass das rechte Compact-Magazin zu Prozess-Beginn nun Fotos von Lina E. und ihrem Partner ungeschwärzt veröffentlichen konnte, wundert vor diesem Hintergrund überhaupt nicht: Die Bilder stammen aus Ermittlungsakten der Polizei. Ob diese direkt aus Polizei-Kreisen in die Compact-Redaktion gelangt sind oder über den Umweg der Neonazi-Nebenklageanwälte, wird schwer festzustellen sein. Zionek, die auch schon den ersten Prozesstag begleitet hatte, sagt: »Der Neonazi-Anwalt Kohlmann saß gestern im Gerichtssaal und hat dort Fotos gemacht, die keine 20 Sekunden später bei Sebastian Schmidtke auf Twitter waren, die wiederum keine 20 Sekunden später von Paul Rzehaczek geteilt wurden und dann natürlich abends in der Berichterstattung von Compact aufgetaucht sind.« Auch an diesem zweiten Prozesstag provozieren die Nebenklageanwälte immer wieder, indem sie die Kameras ihrer Laptops und angeblich ausgeschalteten Handys auf die Angeklagten richten.

Der Prozesstag selbst verläuft abgesehen von einigen Luftküssen, die zwischen Zuschauer*innenraum und Lina E. hin und her geworfen werden, zäh wie ein Kaugummi: Anträge werden verlesen und vom Richter abgelehnt. Immer wieder fällt auf, dass das Gericht der Verteidigung Akten nicht hat zukommen lassen. Hier Abfälligkeiten des Richters gegenüber der Verteidigung, da Gequatsche von einigen der Justizbeamt*innen, die im Zuschauerraum platziert wurden. Neonazi-Anwalt Frank Hannig hängt bei Facebook ab. Und es wird klar, dass dieser Prozess noch sehr lang und strapaziös werden wird.

Das weiß auch Zionek: »Wir werden in unserer Unterstützungsarbeit vor allem versuchen, Geld zu akquirieren, um die Kosten, die im Laufe des Verfahrens anfallen, zu decken. Wir rechnen mit Summen bis zu 300.000 Euro, wenn alles zusammenkommt. Durch so eine Untersuchungshaft fällt eine Menge an, denn da wird ja ein Mensch komplett aus dem Leben gerissen, aber eine Wohnung muss weiterbezahlt werden. All diese Sachen versuchen wir nach Möglichkeit zu organisieren.« Auch wenn es noch zu früh für eine Zwischenbilanz sein mag: Festzuhalten bleibt, dass Antifas in diesem Land nicht nur vom Staat überwacht und kriminalisiert werden, sondern dass zu jedem Zeitpunkt damit gerechnet werden muss, dass all diese gesammelten Informationen auf direktem Wege in die Hände militanter Neonazis geraten.“