Ein Staatsschutz-Prozess

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Das Titelbild der Ausgabe zeigt eine Antifademo 2016 in Bautzen.
  • Lesedauer:6 min Lesezeit

Wir spiegeln einen Artikel aus der Ausgabe Januar/Februar 2023 der antifa, dem Magazin der VVN-BdA:

Interview mit der Verteidigung im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren

antifa: Was wird beim Prozess in Dresden verhandelt, und warum passiert das am Oberlandesgericht?

Rita Belter: Es geht um mehrere Fälle von Körperverletzungen an führenden Neonazis in Sachsen und Thüringen im Zeitraum 2019/2020. Angeklagt sind vier Antifas, wovon eine in Untersuchungshaft ist und drei auf freiem Fuß sind. Ausschlaggebend waren Ermittlungen nach einem Angriff auf ein Führungsmitglied der kriminellen Vereinigung »Knockout 51« mit Verbindungen zu dem deutschen Ableger der »Atomwaffendivision« Ende 2019 in Eisenach. Danach waren zwei der jetzt Angeklagten in der Nähe des Tatorts festgestellt worden. Die Ermittlungen liefen zunächst bei der Staatsanwaltschaft Meiningen, bis die Bundesanwaltschaft (BAW) ihr sogenanntes Evokationsrecht ausübte und die Ermittlungen an sich zog. Es wurden großflächig Überwachungsmaßnahmen gegen die Beschuldigten, denen mehrere Körperverletzungen an Neonazis zugerechnet werden, organisiert. Die Taten allein begründen nicht die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts. Eigentlich wären die örtliche Staatsanwaltschaft und das Landgericht zuständig. Aber die BAW möchte dem Ganzen eine größere Bedeutung zumessen, um nach etlichen Verfahren wegen Bildung krimineller Vereinigungen gegen Neonazis nun auch mal die Gegenseite, nicht wegen der konkreten Taten, sondern wegen der dafür angeblich gebildeten Vereinigung, anzuklagen. Um zuständig zu sein, wurde eine Art Staatsgefährdung durch die Angriffe auf Neonazis konstruiert. Tatsächlich heißt es in der Anklageschrift, dass sie die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner weg vom gewaltfreien Diskurs hinein in die gewaltsame Konfrontation verlagern und den friedlichen politischen Meinungskampf damit in Frage stellen würden. Eine völlig Verdrehung der Kräfteverhältnisse auf den Straßen. Weitere Beschuldigte wegen des gleichen Angriffs in Eisenach, wurden mittlerweile bei dem zuständigen Landgericht in Thüringen angeklagt, der Vereinigungsvorwurf wurde dort eingestellt.

antifa: Lina E. sitzt als einzige Angeklagte seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft. Die Haftbedingungen sind im Vergleich zur Strafhaft ungleich schwerer. Deshalb gibt es eigentlich ein Beschleunigungsgebot, um die Haftzeit ohne Verurteilung möglichst gering zu halten. Warum wird in diesem Fall davon abgesehen?

R.B.: Seit April 2022 wird faktisch nicht mehr beschleunigt verhandelt, weil sich ein Beschuldigter entschlossen hat, umfassend zu kooperieren, um die Anklage der BAW zu stützen. Der musste erst mal befragt werden, es gab Nachermittlungen, und nun haben wir ihn bis Ende November 2022 im Gericht erlebt. Das lief sehr schleppend, weil sein Anwalt nur wenig Zeit hat. Jetzt verhandeln wir wieder drei Wochen nicht, dann fährt der vorsitzende Richter für einen Monat in den Urlaub. Das hat nichts mehr mit Beschleunigung zu tun, aber das sind wir von Staatsschutzprozessen in Sachsen bereits gewöhnt. Die Neonazis von der Freien Kameradschaft Dresden (FKD) saßen auch bis zu dreieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Da ging es aber auch um ganz andere Straftaten. Lina hat ein stabiles Umfeld, ihre Mutter war bei fast jedem der Prozesstage, sie hat Arbeit, eine Wohnung und, was uns zuletzt besonders beschäftigt hat, sie muss eigentlich aufgrund einer chronischen Erkrankung dauerhaft medizinisch behandelt werden. Wegen der fehlenden Versorgung in der Haft hat sie mittlerweile irreperable Schäden erlitten. Es besteht offensichtlich keine Fluchtgefahr. Der einzige Haftgrund ist offenbar die Unauffindbarkeit ihres Verlobten, der bislang nicht angeklagt ist.

antifa: Wer die mittlerweile 80 Prozesstage beobachtet hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Gericht die Verteidigung strukturell ihrer Rechte beraubt. Was habt ihr erlebt?

R.B.: Die Verfahrensführung liegt in den Händen eines Richters, der in Gutsherrenmanier entscheidet, was wer sagen darf. Zuletzt hat er verhindert, dass die Angeklagten eine gemeinsame Erklärung abgeben, und das, obwohl sie sich im Verfahren noch gar nicht geäußert haben. Das Fragerecht der Verteidigung im Sinne der Strafprozessordnung gesteht er uns nicht zu. Kein Zeuge kann von uns befragt werden, ohne dass er dazwischengeht, den Zeugen unsere Fragen erklären will und die Aussagen in seine Agenda der Hufeisentheorie einordnet. Für ihn sind alle gleichermaßen Feinde der Demokratie. Zuletzt hat er die Angeklagten sogar mit der SS verglichen. Was ihn auf der anderen Seite überhaupt nicht interessiert, sind Verstrickungen von rechten Netzwerken in der Polizei, welche an den Ermittlungen gegen die Angeklagten beteiligt waren. Kaum ein Polizist im Verfahren, der ohne Zeugenbeistand erschien, einige machten von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch, um sich nicht selbst zu belasten. Hinzu kommt das patriarchale Auftreten des Vorsitzenden. Er respektiert die beiden Verteidigerinnen überhaupt nicht. Wir fühlen uns in dem Saal teilweise ins letzte Jahrhundert versetzt und sind alle froh, wenn der Prozess endlich vorbei ist.

Das Interview führte Nils Becker

Rita Belter ist Rechtsanwältin in Leipzig und verteidigt einen der Angeklagten im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren.
Mehr Informationen zu dem Verfahren finden sich in den Prozessberichten unter soli-antifa-ost.org

Im März wird das Ende des Verfahrens erwartet. Für den Samstag nach der Urteilsverkündung wird schon jetzt zu einer Tag-X-Demonstration nach Leipzig eingeladen: https://tagxantifaost.noblogs.org/

Auch die VVN hat sich zum Prozess geäußert. Die Stellungnahme ist unter vvn-bda.de/pressemitteilung-antifaschismus-ist-kein-verbrechen/ nachzulesen.

Bundesweit gibt es Solidaritäts-aktionen für die Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren. So auch für Lina, die seit rund 800 Tagen in Untersuchungshaft sitzt.

Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats am OLG Dresden Foto: soli-antifa-ost.org

Bundesweit gibt es Solidaritäts-aktionen für die Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren. So auch für Lina, die seit rund 800 Tagen in Untersuchungshaft sitzt.