das zarte lila pflänzchen der rot-schwarzen solidarität

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Wir spiegeln einen Beitrag von „autonome Frauen“, der am 22. September auf knack.news erschien:

„Wir sehen die Notwendigkeit eines Textes zum Antifa-Ost-Prozess, eine öffentliche Überlegung kann mit Hinblick auf das Prozessende zum Jahreswechsel und die Debatten rund um den Verrat und die Täterschaft des „Kronzeugen“ nicht länger aufgeschoben werden.
Mit diesem Text wollen wir unsere Sicht auf das aktuelle 129-Verfahren in Ostdeutschland und unsere Position zu lila-rot-schwarzer Solidarität in schwierigen Zeiten darlegen.

Seit dem Beginn des Verfahrens mahnen das Solidaritätsbündnis und die linke Szene auch über D hinweg zur Solidarität mit den Beschuldigten des Verfahrens. Auch wir haben uns an verschiedenen Solidaritätsaktionen beteiligt.
Solidarität ist für uns ein grundlegender Wert, politisch und moralisch, und außerdem eine Bedingung für Organisierung außerhalb der herrschenden Verhältnisse. Sie richtet sich gegen die Individualisierung, die sich gesellschaftlich durchgesetzt hat. Sie verbessert die Handlungsfähigkeit einer linken Bewegung. Zentrales Organ der Solidaritätsorganisierung vom Antifa-Ost-Prozess ist das Solidaritätsbündnis Antifa Ost, welches nicht nur die Prozessbegleitung betreut, sondern auch Forderungen zum Prozess formuliert. Zwei Forderungen des Solidaritätsbündnisses sind (1) die Abschaffung des Paragraph 129 und (2) die Abgabe der Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft. Der §129 beschreibt: wer sich vereinigt, um eine Gruppe zu bilden, die den Zweck verfolgt, Straftaten zu begehen, der ist zu bestrafen. Der folgende Absatz §129a bezeichnet eine besondere Schwere der kriminellen Handlungen, die vom Gesetzgeber als terroristisch bezeichnet werden.

Angeklagt wurden die vier Antifaschist*innen nach §129.  Warum dann also ein großes Verfahren mit Staatsschutzsenat und Hochsicherheitssaal, statt die Verhandlung einzelner Körperverletzungsdelikte?

Weil, laut Soko Linx, die Straftaten der vermeintlichen Gruppe an „der Schwelle zum Terrorismus“ stehen. Es oblag der Bundesanwaltschaft, der Soko Linx zu glauben und sich des Verfahrens im Stile eines 129a anzunehmen, wie es aktuell geführt wird. Und so sollte diese Aussage schon vor dem Prozess eine unkonkrete Bedrohung für die Öffentlichkeit durch die konstruierte Gruppe entwerfen und damit großangelegte Überwachungsermittlungen gegen Linke in den letzten Jahre gleich mitlegitimieren.
Bei Ermittlungen nach 129 genügt ein Anfangsverdacht, um massiv in das Leben von Verdächtigen einzugreifen. Nicht umsonst eilt diesem Paragraphen sein Ruf als Schnüffelparagraph gegen die linke Bewegung voraus. Strukturermittlungen leicht gemacht.Es ist nicht nur linke Propaganda, wenn wir die Parole „Getroffen hat es einige, gemeint sind wir alle“ lesen, denn grundsätzlich sind erstmal alle Friends, Kolleg*innen und Hausmitbewohner*innen von Beschuldigten gleich mit unter Verdacht. ​​​​​​​§129 dient schon seit vielen Jahren dazu, den Leipziger Stadtteil Connewitz auszuspähen und seine Bewohner*innen zu drangsalieren. (vgl. „129 Freunde“)​​​​​​​Die Dimensionen der aktuellen Strukurermittlung sind noch nicht absehbar. Wir können aber anhand des 129ers gegen Fans und Ultras der BSG Chemie, gegen Umweltaktivist*innen oder die §129 Ermittlungen gegen Strukturen in Dresden seit 2011 sehen, wie tief die Eingriffe in das Leben von Überwachten und Beschuldigten und die daraus folgenden Veränderungen in der Szene sein können. Der Paragraph wird zur Kriminalisierung und Offenlegung von Strukturen, Freundeskreisen und Fanszenen, der Einschüchterung von Menschen genutzt und ist auch der Versuch, politische Strukturen zu schwächen und schlussendlich zu zerschlagen.

Die Gefährlichkeit der Angeklagten muss nun bewiesen werden. Das erfolgt medienwirksam und bildgewaltig z.B. durch die Inszenierung vom „Helikopterflug“, bei dem ganz zufällig BILD-Journalisten zur richtigen Zeit im richtigen Busch saßen, um die Verhaftete ebenso zu fotografieren, wie sie es auch mit dem Lübke-Mörder Stephan E. getan haben. Natürlich gab es zum Foto auch die passende sexistische Schlagzeile. Hier erfolgte nicht nur die visuelle Hufeisen-Gleichsetzung von mörderischem Rechtsterror und der Angeklagten, sondern auch die Grundsteinlegung für die darauf folgende staatliche Inszenierung der vermeintlichen Notwendigkeit der Zuständigkeit einer Generalbundesanwaltschaft.

Was die einzelnen Körperverletzungsdelikte, die vor Gericht aufgeführt werden verbindet, ist, dass Nazis erst vor Gericht einfällt, an allen Tatorten eine Frau unter den Tätern ausgemacht haben zu wollen. Sie haben sie zwar zum Tatzeitpunkt nicht so richtig gesehen, aber dafür ganz deutlich eine blonde Strähne unter der Mütze. Diese identifiziert die Person als Frau. (vgl. Prozessberichte) Eine Rädelsführer*in musste von den Ermittlungsbehörden gesucht werden, um den 129-Firlefanz und die immensen Ausgaben der vielen Soko Linx Beamt*innen zu rechtfertigen. „Gefunden“ wurde die Anführerin von den Opfernazis, aber erst Jahre danach vor Gericht, als dann dort schon eine Frau saß – wie praktisch. So werden den Angeklagten nicht nur alle vermeintlich linksmotivierten Körperverletzungen der letzten Jahre zugeordnet, sondern die Richter schlucken auch noch das misogyne Konstrukt, „Überall war ’ne Frau dabei, das muss die Angeklagte Lina E.“ gewesen sein; es muss auch immer diese eine Frau gewesen sein, da Frauen nicht so gewalttätig wie Männer sind und die eine, die traut sich eben was. So wird die vermeintliche Gefährlichkeit und staatliche „Notwendigkeit“ der U-Haft, in der Lina seit 1,5 Jahren sitzt, inszeniert und belegt.
Wir wissen nicht, welche Positionen Lina vertritt, ob sie feministisch ist, was sie aktuell denkt. Von außen gibt es eine Menge Erzählungen und Projektionen. Dass Medien antifeministisch über sie berichten, wundert uns nicht. An die Szene wollen wir appellieren, zurückhaltend und verantwortungsbewusst mit Narrativen und Mythen umzugehen. Wir fragen uns, wie sie das wohl findet, dass sie im Fokus steht, dass „sie“ ein Hashtag, ein Tag an der Wand ist, und wie sie wohl zu Schlagzeilen und Zuschreibungen denkt.
Was wir wissen ist:
​​​​​​Knast ist beschissen und Lina musste sexistische Polizeiarbeit über sich ergehen lassen.

Natürlich wäre es für uns nur halb so interessant, wenn es nur der normale „boys club“ wäre, der da vor Gericht steht. Frauen waren schon immer Teil der Antifa, auch wenn sie aus bekannten Gründen nicht sichtbar sind und waren. Nun sitzt da eine auf der Anklagebank und im Frauenknast. Wir können nicht für sie sprechen, wir wissen wenig über sie. Trotzdem gilt ihr, als antifaschistische Frau und Genossin unsere Solidarität, unsere Gedanken. Was ihr vorgeworfen wird, klingt für uns wie effektive Antifa-Arbeit: das Vorhaben der Zerschlagung von Nazistrukturen im braunen Ostdeutschland. Daran sehen wir nur Gutes und ziehen den Hut.
Wir schreiben diesen Text, weil wir denken, dass es an der Zeit ist, Frauen mehr zu unterstützen.
Solidaritätsarbeit und Antirepressionsarbeit dreht sich zu häufig nur um Männer.

Fakt ist: radikal links sein ist weiblich.
Generationen an Frauen vor uns haben das erkämpft. Damit rücken Frauen aber auch immer mehr in den Fokus von Staat und Polizei. Es ist notwendig, über Repression und Solidarität auch mit einer Geschlechterperspektive zu sprechen. Auch das ewige Thema boys club und sexualisierte Gewalt zwingt uns dazu, alles miteinander zu verhandeln und einmal mehr feministisch zu betrachten.

Es ist wichtig, dass Zusammenhänge sich fragen: was wird unter linker Politik verstanden und wie wird das (theoretisch) unterfüttert? Was braucht es für wirklich feministische Antifaarbeit? Was ist gute Organisierung? In Gruppen mit Männern oder männlich dominierten Idealen richtet man sich nach ebendiesen. Ein Aufbegehren wird durch Ausschluss und misogyner sozialer Kontrolle sanktioniert. Kritik daran muss aber geäußert und gehört werden. Zurecht regt sich Kritik an Intransparenz ggü. der Aufarbeitung sexistischer Äußerungen oder Täterschaften.
Wir fordern: die Täterschaften müssen aufgearbeitet werden. Die Bewegung wird geschwächt, wenn Frauen und Feministinnen sich redundant mit sexualisierter Gewalt beschäftigen und viel Zeit und Energie investieren müssen, weil Männer es immer noch nicht verstanden haben.
Feminismus und militante Organisierung dürfen weder gegeneinander ausgespielt werden, noch darf das eine scheitern, ob der Forderung des anderen.
Schluss mit verschwörerischen Texten auf Online-Portalen, die victim blaming betreiben und VS false flags hinter jeder Äußerung einer Betroffenen wittern.
Lasst uns was daraus lernen! Feminismus und Antifa gehören zusammen!

…und trotzdem verteidigen wir linke Politik durch Solidaritätsarbeit!

 Nicht alle von uns finden die radikale Praxis, die den Angeklagten zugeschrieben wird, angemessen oder gut. Wir sind uns uneins über die Methoden der Antifa-Arbeit, auch über deren Verhandlung oder Glorifizierung. Wir haben diskutiert, verfolgt und unterstützt, denn „Solidarität hilft – psychologisch, materiell, politisch, menschlich.“ Wie wir im ersten Abschnitt dargelegt haben, ist dieser Prozess ein politischer Prozess, in dem die Beschuldigten stellvertretend für eine antifaschistische Bewegung juristisch belangt werden sollen. Im aktuellen Fall dient er außerdem sogar dem Schutz von Nazis.

Wir wollen jedoch hin zu einer antipatriarchalen Gesellschaft ohne Faschos und ohne Kapitalismus. Long story short: Wir unterstützen sog. (kriminelle) Vereinigungen, wenn sie Nazistrukturen effektiv angreifen und nachhaltig zerschlagen 🙂

Seit vielen Jahren arbeiten sich Sicherheitsbehörden an linker Szene und linksradikalen Gruppen ab. Die meisten 129-Ermittlungen werden ergebnislos eingestellt, Ermittlungsmethoden wie Verdeckte Ermittler fliegen meist auf. Linke Szene und ihre Mittel der Konspirativität funktionieren gut. Wir möchten zu unverzagter, verantwortungsbewusster Vorsicht in der Praxis aufrufen. Manchen Ermittlungsmethoden kann man im Kleinen ein Schnippchen schlagen (Aufräumen, Verschlüsseln, ab und an mal nach GPS Trackern schauen, Handys raus aus den Strukturen!).
Stärkt Antirepressions-Angebote, den EA und die RH! Helft, statt zu schweigen. Sprecht euch mit Nachbarschaft und Freundinnen ab (Telefonkette? Anwaltsnummern im WG Festnetz gespeichert?).
Der Stresspegel für alle ist hoch – das ist der Sinn von 129. Wir möchten euch Mut machen: haltet durch, bleibt arbeitsfähig und stark. Antifaarbeit ist weiterhin notwendig und legitim. Der Sturm wird vorüberziehen, Antifa wird bleiben. Wir hoffen darauf, dass jüngere Generationen aus den Fehlern lernen und dass junge Frauen sich ermutigt fühlen, ihren Platz in antifaschistischer Organisierung nicht nur einzunehmen und zu verteidigen, sondern auch feministische Interessen durchzusetzen.

Anne und Anna haltens Maul und umarmen sich doll“