Bericht vom 56. Prozesstag – Donnerstag, 30.06.2022

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Bericht vom 56. Prozesstag im Antifa Ost-Verfahren am OLG Dresden am 30.06.22.

Am 56. Prozesstag wurde der, auf Antrag der Verteidigung geladene, Kommunikationswissenschaftler Professor Heinz Walter Schmitz als Sachverständiger zur Gesprächsanalyse einer Innenraumaufnahme eines Gesprächs zwischen drei unbekannten Personen – mutmaßlichen Angeklagten oder Beschuldigten – gehört. Im Anschluss wurde die Oberstaatsanwältin der Bundesanwaltschaft Geilhorn aufgrund des unrechtmäßigen Umgangs mit der Vernehmung von Johannes Domhöver kritisiert.

Zu Beginn der Verhandlung verlas die Verteidigung ihren Beweisantrag zur Anhörung des Sachverständigen Dr. Dr. Schmitz, welcher als Professor der Kommunikationswissenschaft ausführliches Fachwissen zur Gesprächsanalyse besitzt, um die Interpretation eines Gesprächs der mutmaßlich Angeklagten oder Beschuldigten, das als Beweismittel im hiesigen Verfahren angeführt wird, zu bewerten. Er legte dar, dass der Sachverständige erklären kann, dass die Gesprächssequenzen „der war da nicht dabei, der hat damit nichts zu tun… das waren wir“, „mit dem haben wir die Kneipe gemacht“ und „da standest du davor“, nicht wie in der Anklageschrift behauptet eindeutig darauf schließen lassen, die am Gespräch beteiligten seien am Angriff auf den Kanalarbeiter und die Kneipe Bull’s Eye in Eisenach beteiligt gewesen. Hingegen lassen diese durch fehlendes Kontextwissen viele Möglichkeiten der Interpretation zu.

Bevor der Sachverständige kurz vor 10:00 Uhr das Gericht betrat, versuchte die Bundesanwaltschaft ihn schon ungehört zu delegitimieren. So seien seine Bewertungen „keine Tatsachen“, „unzulänglich“ und „bedeutungslos“. Auch der Vorsitzende kommentierte den Beweisantrag gewohnt abfällig.

Befragung des Sachverständigen Schmitz

Der Sachverständige ist Professor für Kommunikationswissenschaft und Phonetik, mit den Schwerpunkten interpersonale Kommunikation und Gesprächsanalyse. Dr. Dr. Schmitz hat zudem wissenschaftliche Forschung im Auftrag des BKAs zur Erschließbarkeit eines Tathergangs anhand von polizeilichen Zeug:innenvernehmungen durchgeführt und sich in diesem Rahmen mit der Frage der Verwendbarkeit von polizeilichen Zeug:innen beschäftigt.

Zu Beginn seines Gutachtens legte Schmitz allgemein dar, dass die zentrale Erkenntnis der gesprächsanalytischen Forschung darin besteht, dass in einem Gespräch die sprachlichen und nich-sprachlichen Einheiten erst im Zusammenhang ihre Bedeutung entwickeln. Dazu gehören Mimik, Gestik, Blickrichtung, Gegenstände, die sich im Raum befinden, etc.. Ferner ist zudem zur Analyse Kontextwissen über die Sprechenden (zB. wie sie miteinander in Beziehung stehen oder deren Sprachgewohnheiten) und die Gesprächssituation nötig. Das, was ein Sprecher vermitteln will, wird nicht nur durch Worte ausgedrückt. Daher kann ein und dieselbe Formulierung je nach Kontext viele unterschiedliche Bedeutungen haben. Da in einer Tonaufnahme viele gesprächsrelevante Einheiten fehlen, unterliegt diese erheblichen Einschränkungen und ist daher nicht ausreichend für eine eindeutige Interpretation geeignet. Es lassen sich lediglich Hypothesen der Deutung des Gesagten anstellen, aber keine eindeutigen Aussagen treffen.

Selbst ein Telefongespräch sei besser analysierbar als ein Gespräch, welches mit Innenraumüberwachung abgehört wurde, da die Beteiligten in einem Telefonat darauf eingestellt sind, sich nicht zu sehen und Gestik und Mimik keinen Einfluss auf das Gespräch haben, anders als bei der Überwachung des nicht-öffentlich gesprochenen Wortes in einem Innenraum.

Analyse der ersten Gesprächssequenz

Der Kommunikationswissenschaftler begann dann mit der Analyse eines Gesprächsmitschnitts aus einer PKW-Innenraumüberwachung. In der ersten Sequenz ist davon die Rede, dass „da so ein Kanalarbeiter verkloppt wurde“ und einer „nicht dabei war“ und es fallen die Worte „das waren wir“ welche in der Anklageschrift als Beweis gelten, dass die Angeklagten oder Beschuldigten, zumindest der Sprechende, an dem Angriff beteiligt gewesen seien. Schmitz erklärte, dass das Wort „wir“ in diesem Zusammenhang ohne weitere nicht-sprachliche Einheiten drei mögliche Hypothesen über die Bedeutung wer dazu gehört, zulässt und dass keinesfalls eine eindeutige Aussage über eine Selbstbezichtigung möglich ist. So wie das Wort „wir“ von UMP1 (unbekannte männliche Person) verwendet wird, bleibt die Zugehörigkeit oder Einschluss der eigenen Person völlig unklar.

Damit war der Sachverständige zunächst mit seiner ersten Analyse fertig, und der Vorsitzende Schlüter-Staats nutzte sein Fragerecht, um zu versuchen, das Analysierte zu entkräften. In seiner Befragung wollte der Vorsitzende wissen, wie ausgeschlossen werden kann, dass nicht die vom Sachverständigen aus dem Duden zitierte „allgemein übliche“ Bedeutung des Wortes „wir“, nämlich eine ‚Gruppe, in welche die eigene Person eingeschlossen ist‘, vorliegt. Der Sachverständige erklärt nochmals, dass er ohne Nachfragen und Kontextwissen einen Wahrheitsanspruch dieser Interpretation als Kommunikatonswissenschaftler nicht akzeptieren kann. 

Der Richter meinte dann, es sei aber offensichtlich, dass weil UMP1 genau weiß, wer nicht dabei war, selbst dabei gewesen sein muss. Auch dies entkräftete der Sachverständige mit einigen Beispielen, in denen Menschen sich einer abstrakten Gruppe zugehörig fühlen und auch, wenn sie nicht bei einem Ereignis dabei waren, später genau wüssten, was vorgefallen ist. 

In einem Antrag forderte die Verteidigung, dem Sachverständigen mitzuteilen, welche Informationen dem Senat vorliegen und auch Anknüpfungsstrafsachen darzulegen, da dem Sachverständigen sonst das nötige Wissen fehlt um den Sachverhalt beurteilen zu können.

Dies lehnte der Vorsitzende natürlich ab.

Die Verteidigung forderte einen Gerichtsbeschluss. Es entbrannte ein heftiger Streit, da der Vorsitzende der Verteidigung erneut vorwarf, dass das Verfahren wegen ihnen so lange dauern würde. Ein Verteidiger entgegnete, dass dies eine Dreistigkeit von ihm ist und der Vorsitzende dies der Verteidigung nicht vorwerfen kann, da er selbst eine Pause von drei Wochen angesetzt hatte. Der Vorsitzende wurde wütend darüber und drohte dem Verteidiger, ihm den „Strom abzustellen“, damit dieser sein Mikrofon nicht mehr zum Reden verwenden könne. Dann setzte er eine Pause an, in der die Verteidigung „ihre Wortwahl überdenken soll“. Ein anderer Verteidiger empfahl dem Vorsitzenden, er solle selbst seine Wortwahl überdenken.

Nach der Pause setzte der Vorsitzende seine Befragung des Sachverständigen fort. Er ging darauf ein, dass er annimmt, dass der Sprecher bei beiden Adressaten vom gleichen Wissensstand ausgeht, dass sie also nicht wissen, wer dabei war und erklärte weiter, dass die Aussage „das waren wir“ lediglich die Funktion hatte, darüber zu informieren, dass eine Person nicht beteiligt war. Die beiden Zuhörer werden eindeutig nicht in das wir einbezogen, zudem hatten sie keine Informationen über den Angriff, da die Worte „[da wurde] so ein [Kanalarbeiter angegriffen]“ fielen, und nicht z.B. „…doch der…“. 

Der Vorsitzende fragte erneut, ob man nicht davon ausgehen könne, dass die Adressaten wüssten, wer mit „wir“ gemeint ist. Der Sachverständige erklärte erneut, dass er das tun könnte, aber dass dies lediglich eine Hypothese sei, von denen viele aufgestellt werden könnten, was aber zu keinem Ergebnis führen würde.

Die Bundesanwaltschaft befragte den Sachverständigen zu seiner Erfahrung mit Gutachten für Gerichte und welche Unterlagen er für dieses Gutachten zur Verfügung hatte.

Der Sachverständige erklärte, er hat eine Vielzahl von Gesprächen aus Tonaufnahmen analysiert, aber noch keine für eine Gerichtsverhandlung. In seiner Aufzählung der Unterlagen kommentierte er Teile der Anklageschrift und die Erstverschriftlichung des Gesprächs durch das BKA als unbrauchbar. Dies führte zu Unmut bei der BAW, die sich über diese Bewertung ihrer Anklageschrift beschwerte, was zu allgemeiner Erheiterung bei den Besucher:innen führte.

Analyse der zweiten Gesprächssequenz

Nach einer einstündigen Mittagspause analysierte der Sachverständige eine weitere Sequenz des Gesprächs, in der die Formulierung „mit dem haben wir die Kneipe gemacht“ auftaucht.

Er erklärte, dass die Aussage mehrere Bedeutungen haben kann und die gemeinte völlig unklar bleibt, und dass es zudem keinen eindeutigen Hinweis darauf gibt, dass der Sprecher damit den Angriff auf die Kneipe Bull’s Eye in Eisenach gemeint hätte.

Die Verteidigung befragte den Sachverständigen dazu, ob er Kenntnis der Abschnitte der Anklageschrift hatte, in welchen ein Angeklagter oder Beschuldigter als Verlobter einer Angeklagten bezeichnet und letztere als Tatverdächtige angeführt wird. Der Sachverständige erinnerte sich an einen solchen Abschnitt, betonte aber, dass diese Behauptung aus dem aufgenommenen Gespräch nicht geschlussfolgert werden kann und er dies nicht akzeptieren kann. Die Verteidigung fragte weiter nach möglichen Bedeutungen des Wortes „machen“ in diesem Zusammenhang, und ob der Angriff auf des Bull’s Eye, welcher 4 Monate vor dem aufgenommenen Gespräch stattfand, gemeint sein kann, wenn einer der Sprechenden sagt, er könne sich nicht mehr erinnern, das sei „zu lange her“. Auch hier erklärte der Sachverständige, dass es eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten gibt.

In einem Antrag ging die Verteidigung nun darauf ein, dass der Vorsitzende anfangs meinte, dass der Sachverständige die komplette Anklage kennen müsse, um zu einer besseren Interpretation zu kommen. Sie beantragte daher, dass dem Sachverständigen gemäß der Kritik des Vorsitzenden alle Anklagepunkte sowie weitere relevante Infos mitgeteilt werden sollten. Die Verteidigung war hingegen der Meinung, dass auch mit allen weiteren Hypothesen der Anklageschrift, der Sachverständige zu keinem anderen Ergebnis kommen würde. Dieser Antrag musste dem Vorsitzenden mehrfach in unterschiedlichen Worten erklärt werden, bis er ihn verstand. Ihm wurde auch erklärt, dass er als Vorsitzender über diesen Antrag entscheiden muss. 

Bevor eine weitere Pause eingelegt wurde, entließ der Vorsitzende den Sachverständigen Schmitz unvereidigt.

Kritik am Umgang mit der Vernehmung Johannes Domhövers

Anschließend verlas die Verteidigung einen Antrag, in dem sie zunächst kritisierte, dass sie erst am 15. Juni 2022 durch einen LVZ-Artikel davon erfuhr, dass der Beschuldigte Johannes Domhöver Kronzeuge ist und umfassende Aussagen in dem hiesigen Verfahren getätigt hat. Sie kritisierte weiterhin, dass während der schon laufenden Verhandlungen weitere Ermittlungen gegen die Angeklagten stattfanden. Außerdem hat der Kronzeuge in zwei weiteren Verfahren Aussagen gemacht.

Es ist weiterhin höchst problematisch, dass der Zeuge KHK Michael Baum, welcher auch an der Vernehmung von J. Domhöver beteiligt war, bei seiner Vernehmung im Gericht zu einem Telefongespräch im Zug bereits zusätzliche vermeintliche Kenntnisse bezüglich Telefonen der Angeklagten aus seiner Vernehmung mit Domhöver hatte und die Verteidigung bei ihrer Befragung des Zeugen nichts davon wusste. Sie beantragte daher, der Verteidigung vollständig alle Vernehmungsprotokolle zur Verfügung zu stellen.

Der Vorsitzende fragte daraufhin die BAW, ob es weitere Vernehmungsprotokolle gibt, in den Domhöver als Zeuge vernommen wurde. Die BAW gab an, dass Domhöver gleichzeitig als Zeuge und als Beschuldigter vernommen wurde.

Die Verteidigung fragte daraufhin, ob er denn als Zeuge über seine Wahrheitspflicht belehrt wurde. Die BAW antwortete ausweichend, er sei über sein Aussageverweigerungsrecht als Zeuge belehrt worden. Die Verteidigung wies darauf hin, dass man als Beschuldigter aber lügen kann. Die BAW gab an, dass sie zu weiteren Vernehmungen in anderen Verfahren hier keine Angaben machen werde. Die Verteidigung fragte, warum nicht allen Verfahrensbeteiligten unverzüglich die Vernehmungsprotokolle zugänglich gemacht wurden, anstatt erst sechs Wochen nach der ersten Vernehmung Domhövers. So wussten sie nichts vom Sonderwissen des Zeugen Baum über die Kommunikation der Angeklagten. Die Verteidigung kritisierte dies als nicht sinnvolle Führung des Verfahrens und zweifelte die Verfahrensherrschaft des Vorsitzenden Schlüter-Staats an.

Der Vorsitzende schlug vor, am 29.07.22 den ersten Termin zur Zeugenvernehmung Domhövers anzusetzen und fragte die Verteidiger:innen, ob sie da Zeit hätten. Mindestens zwei Verteidiger:innen, welche zusammen einen Mandanten vertreten, haben an diesem Termin keine Zeit. Der Vorsitzende versuchte den Termin trotzdem möglich zu machen und schlug vor, dieandernorts geplanten Gerichtstermine der beiden Verteidiger:innen verschieben zu lassen. Es entstand Unmut und Unverständnis seitens der Verteidigung darüber, dass sie sich nach den Terminen des Zeugenbeistands von Domhöver richte müssen.

Am Ende kritisierte ein Verteidiger noch, dass der Vorsitzende angeordnete hat, die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten von Amtswegen zu ermitteln, obwohl die Verteidigung bereits mehrfach zugesagt hat, diese darzulegen, aber eben nach der Beweisaufnahme, so wie es bei Gerichtsverhandlungen üblich ist. Der Vorsitzende beschwerte sich seinerseits, dass er darauf nicht warten könne und schloss die Sitzung um 16:30 Uhr.

Der nächste Verhandlungstag findet am 07. Juli um 9:30 Uhr am OLG Dresden statt.